Naturwissenschaften im Zentrum der Allgemeinbildung
Aber: die Deutschen als Hegelianer und Hermeneutiker
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Theodor Wilhelm
Pädagoge
"Die Verachtung der Naturwissenschaften durch die Geisteswissenschaften
trifft nur auf eine sehr viel frühere Wissenschaftsperiode zu; da muss
man schon in die Zeit von [Francis] Bacon [1561 -- 1626]
zurückgehen, wo in der Tat die Universitätsprofessoren, vollgesogen
mit den metaphysischen Spitzfindigkeiten des Spätmittelalters, die
neuen naturwissenschaftlichen Denker, die sich mit Würmern und Wasser
und Fernrohren abgaben, verachteten --- weshalb ja auch die Universitäten
für den Fortschritt der Naturwissenschaften bis ins 19. Jahrhundert in
Deutschland nur eine ganz unwesentliche Rolle gespielt haben. Es ist nicht
eigentlich Verachtung, sondern es ist eine in der abendländischen und
speziell in der deutschen Geistesgeschichte angelegte Voreinstellung zum
Phänomen Natur, was es den Schultheoretikern in Deutschland auch heute
noch so schwer macht, den Naturwissenschaften gerecht zu werden.
Die Natur wird von den deutschen Schulpädagogen in ihrem Wert am
Menschen gemessen. Sie ist dazu da, um die Unvergleichlichkeit
des Menschen sichtbar zu machen.
In solcher Perspektive kann man allenfalls mit der Pflanzenwelt etwas
anfangen, aber nicht mit der Tierwelt. Den Menschen vom Tier her
verstehen zu wollen, ist Sache der Mediziner, aber nicht der Pädagogen.
Der Mensch-Tier-Vergleich ist in der deutschen Pädagogik stets abgelehnt
worden; noch heute spielen in der pädagogischen Literatur Argumente eine
Rolle, die gegen die Anwendung des Verhaltensbegriffes auf den Menschen
protestieren: »Tiere verhalten sich, Menschen gehen ans Werk und handeln.«
[Siehe hierzu den
Pädagogen Andreas Flitner]
Wir Deutschen sind allzumal Hegelianer. Und wir deutschen Pädagogen sind
allzumal Hermeneutiker. Die Kombination von Dialektik und Hermeneutik
macht die »deutsche Ideologie« aus, die für die Gewichtsverteilung der
Schulfächer und für das Methodenbewusstsein der deutschen Schule
wesentlich mitverantwortlich ist. Man kann den hermeneutischen Anspruch in
scharfer Selbstkritik so pointieren: Das auf Lösungen verzichtende, in
Antinomien sich wohl fühlende, der Mathematisierung abholde, gegen
Systeme skeptische, aber durch Erlebnistiefe und Intuitionsfülle
getragene, das Ganze visionär erahnende und die Analyse des Details
nicht abwartende Denken ist das einzig wahrhafte Denken. Die
naturwissenschaftliche Rationalität ist in solcher Beurteilung
bloße intellektuelle Technologie [...]
Der zentrale Aspekt dieses spezifisch deutschen hermeneutischen Antinaturalismus ist die Abwertung der Analyse als einer wissenschaftlichen Erkenntnismethode --- die Vernachlässigung der Bemühung um die Erforschung des Details ---, der schnelle visionäre Blick auf das Ganze und alle damit verbundenen Verführungen zu utopischen Konzepten der Welt."
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