Wolf Singer: Gehirn, freier Wille, Bewusstsein
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Wolf Singer
Neurophysiologe
"Dass Menschen aus freiem Willen über ihr Handeln bestimmen,
sei eine Illusion - mit dieser These wurde Wolf Singer weit
über sein Fach hinaus bekannt und stieß viele Diskussionen
an. Er selbst spricht lieber davon, der freie Wille sei ein
»kulturelles Konstrukt«. Wie aber lebt es sich mit
dieser Überzeugung im Alltag? Auch ein Hirnforscher,
der den freien Willen für eine Einbildung hält,
trifft ständig Entscheidungen - ob er ein Hemd aussucht,
neue Mitarbeiter einstellt oder bei Wahlen sein Kreuzchen
macht. »Natürlich bin ich für meine Entscheidungen
verantwortlich«, stellt Singer klar, »denn
ich bin es, der sie trifft und andere können mir diese
Handlungen zurechnen.« Gleichzeitig ist er überzeugt:
Was wir tun oder lassen, entscheidet nicht unser unabhängiger
Wille, es hängt vielmehr ab von angeborenen Möglichkeiten,
Erziehung und anderen Umweltfaktoren, die Strukturen und Verschaltungen
in unserem Gehirn prägen. »Was wir tun, ist Folge
des unmittelbar vorausgehenden Zustands unseres Gehirns, von
dem wir nur wenige Variablen bewusst kontrollieren«,
erklärt Singer. »Plus ein bisschen thermisches Rauschen«,
also auch ein wenig Zufall, wie der Hirnforscher schmunzelnd
zugesteht.
Ohne die Annahme eines freien Willens könne sich noch
der kaltblütigste Mörder aus der Verantwortung stehlen,
wird Wolf Singer oft vorgehalten. Er sieht das anders: Die
Konsequenzen blieben ja die gleichen, argumentiert er. »Ob
wir nun glauben, jemand sei 'böse' und habe einen
Mord begangen, weil es seine freie Entscheidung war, oder
ob wir ihn als armen Kerl am Rande des
Spektrums menschlicher Möglichkeiten sehen, der
aufgrund vieler ungünstiger Einflüsse nur eine niedrige
Tötungshemmung entwickelt hat - in jedem Fall ist solch
ein Mensch eine Gefahr und muss für lange Zeit daran
gehindert werden, in Freiheit zu agieren, und wenn möglich
auch therapiert werden.«
[Siehe hierzu auch
Konrad Lorenz' Begriff des "Ausfallsbehafteten"!]
Auch gibt Singer zu bedenken, dass Alternativen zu seinem
Konzept ebenfalls nicht unproblematisch sind: »Man muss
sich fragen, was man mit dem Freiheitsbegriff meint. Ist der
Wille, der uns steuert, ein Etwas außerhalb unserer
selbst oder in unserem Kopf? So wähnten die alten Griechen
in der Ilias wohl ihr Schicksal gelenkt. Oder treffen wir
Entscheidungen, wie manche heute aus der Quantenphysik ableiten
wollen, in undeterminierter Weise?« Beide Vorstellungen
findet Singer »wenig angenehm«. Aber auch für
den Hirnforscher existiert das normale Alltagsbewusstsein
neben der wissenschaftlichen Einsicht. »Wir sagen ja
auch, die Sonne geht im Osten auf, obwohl wir wissen, dass
das keine korrekte Beschreibung ist. Und so verhalte ich mich
in vielen alltäglichen Dingen, als ob ich
einen freien Willen besäße. Dabei weiß ich, dass er nur
eine kulturell bedingte Ausprägung des Bewusstseins ist,
das sich selbst wiederum einem besonderen Zustand der neuronalen
Netzwerke in der Großhirnrinde verdankt.«
Nervenzellen, die zusammengehörige Signale verarbeiten, werden gleichzeitig aktiv und schwingen im selben Rhythmus - »und zwar auf Millisekunden genau«, so Singer.
Seine Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass diese Synchronisation möglicherweise die Information enthält, dass die Signale miteinander verbunden sind. In diesem Fall müssten dann auch viele höhere Hirnfunktionen - bis hin zum menschlichen Bewusstsein - auf solchen rhythmisch organisierten Wechselbeziehungen beruhen. Denn einen bestimmten Ort im Gehirn, der das Bewusstsein enthält, konnten die Hirnforscher bisher nicht finden. Singer vermutet stattdessen: Ein kompliziertes Muster von Schwingungen, das viele verschiedene Hirnregionen miteinander vernetzt, könnte das sein, was im Kopf vor sich geht, wenn ein Kleinkind in den Spiegel blickt und zum ersten Mal erkennt: »Das bin ja ich« [...]".
Quelle: DFG, Communicator-Preis 2003
(Siehe hierzu auch Ernest Jones und Konrad Lorenz!)
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