Hermann Haken
theoretischer Physiker, Begründer der Synergetik
"Bestimmte Ordnungszustände wachsen immer mehr an und setzen sich
schließlich durch, bis sie alle Teile eines Systems versklaven
und in den Ordnungszustand hereinziehen. Oft trifft eine nicht
vorhersehbare Fluktuation die endgültige Auswahl zwischen ansich
gleichberechtigten Ordnungszuständen. Diese Erscheinungen treten
uns auch im geistigen Bereich entgegen [...]
Im naturwissenschaftlich-technischen Bereich können wir in vielen
Fällen die neuen Ordnungszustände vorausberechnen. Im rein Geistigen
geht das natürlich nicht mehr. Aber wir erkennen doch, dass die
gleichen qualitativen Gesetzmäßigkeiten gelten.
Nachdem alles schließlich aus Materie besteht und wir nunmehr sehen,
dass die Gesetze der Selbstorganisation nicht
den Gesetzen der Physik widersprechen, sondern mit ihnen verträglich
sind, drängt sich natürlich sofort die Frage danach auf, ob ein
Schöpfer überhaupt noch notwendig ist. Hier steht wohl jeder von
uns an einer Weggabelung. Es steht ihm frei, an einen Schöpfer zu
glauben oder nicht.
Der eine wird sagen: Wir können diese ganzen Entwicklungen ja nun
wenigsten im Prinzip auf materiellem Gebiet verstehen. Alles ist
durch Selbstorganisation entstanden.
Der andere wird sich daran erinnern, dass z.B. bei der Konstruktion
von Rechenmaschinen es sich als äußerst schwierig erweist,
grundsätzlich Regeln aufzustellen, die dann die Selbstorganisation
der Computer gewährleisten.
Dieser andere wird also sagen: Nachdem alles in so wundervoller
Weise in der Natur entstanden ist, muss ein Schöpfer dagewesen
sein, der erst einmal die richtigen Gesetze geschaffen hat, damit
sich dann die Selbstorganisation der Materie verwirklichen
kann [...]
Wie es immer deutlicher wird, gibt es in den Naturwissenschaften
und wohl erst recht im philosophischen oder soziologischen Bereich
Probleme, die prinzipiell nicht oder nicht eindeutig lösbar sind.
Dies mag uns zugleich überraschen und schockieren. Tatsächlich
konnte aber der Mathematiker Kurt Gödel
(*1906 [- 1978]) zeigen, dass es selbst in der strengen Mathematik Aufgaben
gibt, bei denen man grundsätzlich nicht weiß, ob man sie
lösen kann oder nicht, oder --- genauer gesagt --- bei denen das
Problem der Lösung nicht entscheidbar ist.
Wenn wir solche Einsichten der Mathematik auch auf andere
Wissenschaftszweige zumindest intuitiv ausdehnen, so müssen wir
damit rechnen, dass es Fragen gibt, die wir prinzipiell nicht
beantworten können. Gerade ein junger Leser mag hier nun
enttäuscht sein. Ihm sei aber zum Trost gesagt, dass es ungeheuer
viele
Probleme gibt, die sich lösen lassen und die auch für das
weitere menschliche Dasein gelöst werden müssen, um ein
Weiterbestehen der Menschheit zu gewährleisten."
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